Analyse des Kunstwerks Porträt eines jungen Mannes (Das Broccardo-Porträt), ca. 1508/10

Giorgio da Castelfranco (genannt Giorgione),

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Werkbeschreibung

Abb. 1: Giorgione, Porträt eines jungen Mannes (Das Broccardo-Porträt), um 1508–1510. Öl auf Leinwand, 72,5 × 54 cm, Szépművészeti Múzeum, Budapest.

Das Gemälde zeigt die Brustfigur eines jungen Mannes vor einem dunklen, neutralen Hintergrund. Die Person trägt eine dunkle, reich verzierte casacca (Wams oder Jacke) mit gestepptem Rautenmuster und goldbestickten Motiven, darunter ein weißes Hemd. Auffällig sind die am Hemdausschnitt gebundenen Knoten. Diese Bänder sind in Form von sogenannten Liebesknoten geschlungen – ein in der Renaissance gebräuchliches Symbol verliebter Verbundenheit. Solche kunstvoll verknoteten Bänder wurden als Zeichen der Liebe zwischen Partnern ausgetauscht und „oft auch am Hut, Arm oder auf der Brust getragen“. Der junge Mann hat mittellanges, kastanienbraunes Haar mit Mittelscheitel, das glatt bis zu den Ohren herabfällt. Sein Gesicht ist oval, der Blick ist seitlich nach links unten gerichtet und scheint ins Leere zu gehen. Die Augen sind groß und ausdrucksvoll, der Mund leicht geschlossen, was dem Gesichtsausdruck einen träumerischen, entrückten Charakter gibt. Die Haltung des Dargestellten wirkt leicht nach vorn geneigt und introspektiv; anstatt den Betrachter anzublicken, senkt er den Blick. Seine rechte Hand ist auf die Brust gelegt – eine Geste, die feierlich oder emotional wirkt. Kunsthistoriker sehen darin einen Ausdruck innerer Bewegung, angelehnt an Leonardos Idee der “moti dell’animo” (Bewegungen der Seele) in der Malerei. Vor dem Dargestellten verläuft am unteren Bildrand ein steinerner Parapet (Brüstung), auf dem sein angewinkelter linker Arm ruht, wodurch eine Trennung zwischen Bild- und Betrachterraum geschaffen wird. Diese Komposition mit einer Brüstung vor dunklem Hintergrund orientiert sich an flämischen Porträtvorbildern, wie sie um 1500 beliebt waren. Zugleich durchbricht der junge Mann diese Trennung, indem sein Arm über die Brüstung gelegt ist, was einen illusorischen Kontakt zum Betrachter herstellt. Insgesamt vermittelt das Porträt einen ruhigen, beinahe poetischen Eindruck. Die gesenkte Blickrichtung – unüblich für Renaissance-Porträts, die meist einen direkten Blickkontakt suchten – erzeugt eine schwer fassbare Stimmung von Melancholie und Versunkenheit. Anders als das konventionelle Renaissancebildnis, bei dem das Modell den Betrachter oft selbstbewusst fixiert, entzieht sich dieser junge Mann dem direkten Blick und scheint in Gedanken versunken. Diese ungewöhnliche Darstellung „schafft eine undefinierbare Atmosphäre von Wehmut, existenzieller Traurigkeit“, die den Betrachter in ihren Bann zieht.

Ikonografische Analyse

Das Gemälde ist reich an symbolischen Details, die auf die Identität und Gemütslage des Dargestellten hinzudeuten scheinen. Auf dem steinernen Vorsprung im Vordergrund sind mehrere Embleme angebracht. Links erkennt man ein kleines schwarzes Feld in Form eines flachen Hutes (Barett) mit einem darauf gemalten weißen Buchstaben “V.”. Dieses Zeichen wird vielfach als initiale Imprese gedeutet. Eine Lesart versteht das „V“ als Abkürzung des lateinischen Wortes virtus („Tugend“, im Sinn von Tapferkeit). Diese Deutung würde das Selbstbild des Porträtierten als tugendhaften (vielleicht moralisch standhaften oder mutigen) jungen Mann unterstreichen. Alternativ wurde vorgeschlagen, das „V“ könne auf den Namen einer Person hindeuten – etwa auf Vittore (Vettor) Cappello, ein Mitglied der venezianischen Patrizierfamilie Cappello. Tatsächlich bedeutet cappello auf Italienisch „Hut“, und das Zeichen eines Hutes mit „V“ könnte ein Wortspiel oder persönliches Emblem dieser Familie sein. Allerdings ist diese Identifikation umstritten und wird von neueren Forschungen bezweifelt.

In der Mitte des Parapets sieht man ein rundes Medaillon oder eine Brosche mit einem antiken Kameo: Eingelassen ist eine Gemme mit der Darstellung von drei weiblichen Köpfen, die mit ihren Hinterköpfen aneinandergefügt sind. Dieses Motiv eines Tripelkopfes erinnert an Darstellungen klassischer Gottheiten oder Allegorien. Denkbar ist eine Anspielung auf die Drei Grazien der antiken Mythologie, die als Verkörperung von Anmut, Schönheit und Liebe galten – Werte, die mit einem lyrisch verliebten Stimmungsporträt korrespondieren würden. Ebenso könnte das dreifache Antlitz auf die dreifache Göttin (etwa Diana/Artemis-Hekate) verweisen oder eine Allegorie der Klugheit (Prudentia) sein, welche in der Renaissance-Kunst manchmal durch drei Gesichter symbolisiert wurde. Letzteres wäre bemerkenswert, da Prudentia zu den Kardinaltugenden gehört – und damit zu virtus passen würde. Allerdings bleibt die genaue Bedeutung dieses Kameos ungewiss; möglicherweise handelt es sich schlicht um ein bei Humanisten beliebtes antikes Schmuckstück, das Gelehrsamkeit und Sinn für Klassik signalisiert.

Rechts auf dem Parapet schließlich ist ein kleines Kartuschenfeld mit einer nahezu unleserlichen Inschrift zu erkennen. Bei genauer Betrachtung lassen sich Buchstaben entziffern, die auf einen Namen hindeuten: Fragmente wie „ANTONIVS BROKARDVS MAR…“ wurden berichtet. Dies legt nahe, dass hier der Name des Porträtierten Antonio Broccardo festgehalten ist – vermutlich in lateinischer Form Antonius Brocardus. Die Inschrift ist heute stark verwischt oder übermalt, doch ihre Reste untermauern die Identifizierung der Figur mit dem venezianischen Humanisten und Dichter Antonio Broccardo. Unterstützt wird diese Zuordnung durch die anderen Embleme: Sie könnten persönliche Imprese des Broccardo gewesen sein, die auf seine Tugenden und seine (mögliche) Liebesthematik verweisen. So ergibt sich ein sinnfälliges Bildprogramm: Der junge Mann präsentiert sich als tugendhafter Liebender – angedeutet durch den Buchstaben V (virtus), durch die Liebesknoten an seinem Gewand und eventuell durch einen antiken Liebes- oder Tugendallegorien entlehnten Kameo. Das Zusammenwirken von realistischem Porträt und emblematischen Symbolen erinnert an die Doppelfunktion von Wappen und Bildnis, wie sie um 1500 geläufig war: Einerseits die individuelle Physiognomie, andererseits persönliche Zeichen, die Status, Charakter oder Ideale kommunizieren. Hans Belting weist darauf hin, dass im Spätmittelalter das Wappen als „Medium des Körpers“ diente – als stellvertretender „zweiter Körper“ einer Person – und dass das Tafelporträt in der Renaissance diese Rolle des persönlichen Identifikationsmediums übernahm. Im Broccardo-Porträt vereinen sich beide Ebenen: Das lebensechte Abbild des jungen Mannes und seine sinnbildlichen Insignien.

Kontextualisierung

Das Broccardo-Porträt entstand in der Zeit der venezianischen Hochrenaissance, in der Giorgione (1477/78–1510) mit seinen neuartigen Bildschöpfungen die Malerei revolutionierte. Giorgione, der nur etwa 32 Jahre alt wurde, führte in Venedig einen neuen malerischen Ton ein: Er verließ die streng repräsentativen und narrativen Darstellungsweisen zugunsten eines stimmungsvollen, subjektiven Ansatzes. Zeitgenössische Chronisten und spätere Kunsthistoriker rühmen Giorgiones Fähigkeit, seinen Bildern eine poetische Atmosphäre zu verleihen, die bis dahin eher der Literatur vorbehalten war. Laut John Pope-Hennessy „übertrug [Giorgione] den lyrischen und romantischen Ton der Dichtung seiner Zeit in die Malerei“. Dieses Porträt eines jungen Mannes gilt als besonders gelungenes Beispiel für den neu entstandenen introspektiven, gefühlsbetonten Porträttyp. Im Gegensatz zu vielen vorangegangenen Bildnissen, die Status und äußere Ähnlichkeit betonten, rückt hier die Vermittlung einer Innerlichkeit in den Vordergrund. Giorgione „umhüllte selbst Porträts mit einer magischen, poetischen Stimmung“, wie sie vorher in der italienischen Malerei kaum zu finden war. Damit bereitete er den Weg für nachfolgende Künstler wie Tizian, Sebastiano del Piombo und andere, die die psychologische Dimension des Porträts weiter ausloteten.

Vergleicht man das Broccardo-Porträt mit anderen Renaissance-Porträts, so fällt seine Unkonventionalität auf. Frühe bis mittlere Renaissance-Bildnisse (etwa in Florenz oder Mantua) zeigten meist Profilansichten oder starre Dreiviertelansichten mit direktem Blick, um den Dargestellten klar erkennbar und würdevoll zu präsentieren. In Venedig hatten Giovanni Bellini und Albrecht Dürer um 1500 bereits realistische Männerbildnisse gemalt, doch meist blickten die Modelle aus dem Bild heraus, den Betrachter selbstbewusst fixierend. Giorgiones junger Mann hingegen wendet den Blick nach innen – er scheint in Gedanken versunken, was dem Porträt etwas Intimes und Privates verleiht. Diese Erscheinung erinnert mehr an literarische Figuren des petrarkistischen Liebesdiskurses (etwa den melancholischen Liebhaber in der Dichtung) als an offizielle Repräsentationsporträts. In der Tat passt das Broccardo-Porträt in eine Reihe von venezianischen Bildnissen um 1500–1520, die man als “lyrische Männerporträts” bezeichnen könnte (so etwa einige frühe Porträts Tizians oder Palma Vecchios). Solche Gemälde versuchen nicht primär, sozialen Rang durch Insignien oder steife Haltung zu demonstrieren, sondern Stimmungen und persönliche Empfindungen visuell auszudrücken. Die Hand-auf-die-Brust-Geste im vorliegenden Bild kann beispielsweise als Zeichen innerer Ergriffenheit gelesen werden – ein Motiv, das an schwärmerische Dichter oder an Figuren der venezianischen Kultur jener Zeit denken lässt.

Eine weitere Kontextualisierung ergibt sich durch die Herkunft und den Aufbewahrungsort des Gemäldes. Heute befindet es sich im Museum of Fine Arts in Budapest, war aber ursprünglich Teil der Sammlung des ungarischen Grafen János Pyrker, der es 1836 dem Museum übergab. Kunsthistorisch war die Autorschaft des Bildes nicht immer unumstritten: Zwar wird es heute meistens Giorgione zugeschrieben, doch früher wurden auch andere Künstler aus seinem Umfeld ins Spiel gebracht. So vermuteten einige Forscher, Giorgiones Zeitgenosse Giovanni Cariani könne der Maler sein. Auch stilistisch zeigt das Werk Einflüsse, die für die venezianische Malerei um 1508 typisch sind: Das Sfumato etwa – jenes weiche Verblenden der Konturen, das Leonardo da Vinci erfunden hatte – wurde hier eingesetzt, um dem Antlitz des jungen Mannes ein sanftes, lebensechtes Aussehen zu verleihen. Technische Untersuchungen (Infrarot- und Röntgenaufnahmen) haben zudem ergeben, dass Giorgione ursprünglich im Hintergrund oben links eine kleine Landschaft mit Himmel gemalt hatte, wohl durch ein Fenster oder eine Öffnung sichtbar. Diese Landschaft ist heute nur noch schemenhaft erkennbar, da die Malschicht stark gelitten hat und der Hintergrund nun weitgehend dunkel und einheitlich erscheint. Die Spuren (etwa “Linie di monti nel fondo” – Berglinien im Hintergrund) deuten aber darauf hin, dass die Komposition einst einen Ausblick ins Freie bot, in den der Dargestellte womöglich gedanklich blickte. Interessanterweise scheint der nachträgliche Schwund dieser Hintergrundszene die Introversion des Porträts noch verstärkt zu haben – heute schwebt der junge Mann quasi in einer zeit- und raumlosen Dunkelheit, was die Konzentration auf seinen Gefühlsausdruck lenkt.

Interpretation

Emotionale Wirkung: Das Gemälde vermittelt vor allem Melancholie und träumerische Versunkenheit. Die gesenkten Augenlider und der entrückte Gesichtsausdruck lassen den jungen Mann gedankenverloren erscheinen, als sei er innerlich weit entfernt. Die Kunsthistoriker Axel Vécsey und John Pope-Hennessy betonen die Mehrdeutigkeit dieser Emotion: Ist es die schwermütige Sehnsucht eines Liebenden – „der bittersüße Schmerz der Liebe“? Oder eher eine stille, tiefere Trauer (vielleicht um einen Verlust)? Einige Interpreten sehen in seinem Blick auch religiöse Andacht oder einen Moment dichterischer Inspiration, der den jungen Mann übermannt. Die Stimmung ist bewusst offen gehalten – das Bild liefert keine eindeutige Geschichte im Hintergrund, kein Attribut (wie ein Buch oder Instrument), das den Gemütszustand eindeutig definieren würde. Dadurch wird der Betrachter eingeladen, die Gefühlslage nach eigenem Empfinden zu deuten. Diese offene Emotionalität war neuartig: Früher sollten Porträts oft einen bestimmten Status oder Charakter festschreiben; hier hingegen scheint Stimmung vor Narration zu gehen. Die Frage “Welche Gefühle vermittelt die Darstellung?” lässt sich daher nicht monolithisch beantworten: Wehmut, Liebesschmerz, Kontemplation, stille Würde – all dies schwingt mit. Schon Zeitgenossen der Renaissance beschrieben eine besondere dolce malinconia (süße Melancholie) als Gemütszustand des edlen Liebenden, was in der Literatur (etwa bei Petrarca) als Zeichen geistiger Tiefe und Leidenschaft galt. Das Porträt könnte genau dieses Ideal verbildlichen: ein junger Intellektueller, verloren im Nachsinnen über Liebe oder existenzielle Fragen.

Verträumtes Erscheinungsbild: Das träumerische Aussehen des jungen Mannes – sein „verlorener“ Blick und die leichte Neigung des Kopfes – könnte darauf hindeuten, dass wir ihn in einem Moment innerer Vision sehen. Aus kunsttheoretischer Sicht der Renaissance sollte ein guter Maler auch die unsichtbaren Regungen der Seele sichtbar machen. Giorgione erfüllt dies hier meisterhaft, indem er den Dargestellten zwischen Anwesenheit und Abwesenheit schweben lässt: körperlich präsent, doch geistig offenbar woanders. Möglicherweise soll der Porträtierte als Dichter oder Denker verstanden werden, der im Augenblick der Inspiration porträtiert wurde. Wenn es tatsächlich Antonio Broccardo ist, war dieser ein bekannter Humanist und Dichter in Venedig. Broccardo stand mit Literaten wie Pietro Bembo in Kontakt und verfasste lateinische und volkssprachliche Dichtungen. Man könnte das Bild als personifizierte Dichtung auffassen – ein “lyrisches Porträt”, das die seelische Verfassung eines jungen Poeten darstellt. Hans Belting hat betont, dass ein Porträt immer auch die Abwesenheit des Dargestellten thematisiert – es ist ein Bildnis in absentia, ein Stellvertreter des Menschen, oft motiviert von dem Wunsch, die Vergänglichkeit zu bannen. Vor diesem Hintergrund ließe sich das verträumte Aussehen als Ausdruck einer inneren Abwesenheit deuten: Der Porträtierte ist körperlich da, aber mit den Gedanken abwesend, vielleicht bei einer fernen geliebten Person oder bei idealen Vorstellungen. Das Portrait bewahrt diesen flüchtigen Zustand wie eine visuelle Erinnerung. Belting fragt provokativ: “Welches Porträt wurde nicht mit dem Gedanken an den Tod gemalt?” – auch wenn hier der Dargestellte jung und lebendig ist, könnte die Darstellung seiner entrückten Pose auf die Renaissance-Idee anspielen, dass ein Bildnis den Menschen über die Zeit hinaus festhält, beinahe als würde man seiner zukünftigen Abwesenheit (dem Tod oder der Trennung) vorgreifen. So gesehen vereint das verträumte Erscheinungsbild diesseitige Sinnlichkeit und jenseitige Entrückung.

Symbolik der Accessoires: Die auffälligen Accessoires – Liebesknoten, V-Emblem, Dreikopf-Kameo, Inschrift – ergeben zusammen ein komplexes ikonografisches Rätsel. Eine naheliegende Deutung verbindet all diese Zeichen mit dem Thema Liebe und Tugend. Die Liebesknoten am Hemd sind eindeutige Symbole romantischer Bindung. Sie könnten darauf hinweisen, dass der Dargestellte in Liebesangelegenheiten „gebunden“ ist, also entweder verliebt oder sogar verlobt. Knoten gelten seit der Antike als Zeichen der Verbindung (man denke an den sprichwörtlichen „Band der Liebe“). Ihre Position – direkt auf der Brust des Mannes – verstärkt die Idee, dass sein Herz gebunden ist. Das V könnte – sofern nicht bloß ein persönliches Initial – für Venus, die Liebesgöttin, stehen, was im Kontext der Liebesknoten und der anmutigen Pose ebenfalls passt. (Während virtus eine lesbare Deutung ist, darf man nicht vergessen, dass Venus als Personifikation der Liebe eine ebenso plausible Assoziation für ein V darstellt – gerade in einem Porträt, das voller Anspielungen auf Liebe zu sein scheint.) Der Kamee mit den drei Frauenköpfen ließe sich als Darstellung der drei Grazien interpretieren, die in der Renaissance als Allegorie verfeinerter Liebe und freigiebiger Schönheit beliebt waren. Die drei Grazien – häufig als untrennbare Einheit gezeigt – könnten hier auf die harmonische Verbindung verschiedener Aspekte der Liebe hindeuten (etwa Geben, Empfangen und Danksagen, wofür die Grazien stehen). Alternativ, falls die drei Gesichter unterschiedlichen Alters sind (was in der unscharfen Miniatur nicht klar ist), könnte es auch die drei Lebensalter oder die dreifache Natur der Zeit symbolisieren, was mit dem melancholischen Nachsinnen über Vergänglichkeit korrespondieren würde. Schließlich klärt die Inschrift (soweit lesbar) den konkreten Bezug: „Antonius Broccardus“ scheint aufzuschimmern, was uns erlaubt anzunehmen, dass der Porträtierte eine reale Person aus der venezianischen Gesellschaft ist. Antonio Broccardo entstammte einer angesehenen Familie und war ein junger Adliger, der sich der Poesie widmete. Gesellschaftlich gehörte er vermutlich zu den gebildeten Kreisen Venedigs um 1500, möglicherweise in Verbindung zum humanistischen Umfeld an der Universität Padua oder am Hof venezianischer Patrizier. Die Symbole könnten auch persönliche Devise sein: In Renaissance-Porträts war es nicht unüblich, dass der Dargestellte seine Persönlichkeit durch sogenannte Imprese ausdrückt – bildliche Rätsel, die persönliche Wahlsprüche oder Werte verklausuliert darstellen. So könnte das V beispielsweise Teil eines Mottos gewesen sein (etwa “Virtute” oder “Vincit amor” etc.), und der Kameo ein Geschenk einer geliebten Person oder ein Erbstück. Insgesamt suggerieren die Accessoires, dass hinter dem Porträt eine konkrete Geschichte oder Botschaft steckt – wahrscheinlich in Richtung eines Liebesporträts oder einer Selbstinszenierung als tugendsamer Liebhaber.

Gesellschaftlicher und persönlicher Hintergrund: Wenn wir Antonio Broccardo als Dargestellten annehmen, ergeben sich einige Anhaltspunkte: Broccardo war ein junger Literat in der Zeit um 1500. Er wäre zur vermutlichen Entstehungszeit des Bildes (1508–1510) allerdings noch sehr jung gewesen – nach einigen Quellen noch im Teenageralter. Dies hat zur Debatte geführt, ob das Bild nicht doch früher entstanden sein könnte (um 1500) oder ob eventuell ein anderer junger Mann gemeint ist. Sollte es Broccardo sein, könnte der Anlass der Entstehung ein besonderes Ereignis gewesen sein – etwa das Erreichen der Volljährigkeit, der Beitritt zu einer gelehrten Gesellschaft oder (im Kontext der Liebe) die Anbahnung einer Verlobung. Die erwähnte Spekulation, es handle sich um eine Aufnahme in einen geheimen Orden oder eine Bruderschaft, basiert auf der mysteriösen Stimmung und den symbolischen Objekten. In Venedig gab es zu jener Zeit semi-geheime Akademien und Gesellschaften, in denen Dichter und Philosophen verkehrten. Allerdings gibt es hierfür im Bild keine eindeutigen Hinweise – das blieb eine moderne Spekulation, die vom rätselhaften Ausdruck herrührt. Politisch ließe sich fragen, ob Broccardo oder ein anderer Dargestellter evtl. mit den Wirren der Zeit (z.B. den Kriegen der Liga von Cambrai um 1508) in Verbindung stand. Dafür fehlen jedoch konkrete Zeichen wie militärische Embleme. Eher deutet alles auf einen persönlichen, intimen Hintergrund hin: Das Porträt könnte für den Dargestellten selbst oder einen engen Kreis (Familie, Geliebte) bestimmt gewesen sein, nicht als offizielles Repräsentationsbild. Die introspektive Pose und die Liebessymbole suggerieren ein Privatbild, das Gefühle und Ideale festhält, vielleicht als Andenken. Hans Belting würde hier vom Porträt als einem Medium der Erinnerung sprechen – einer Fixierung der Identität jenseits des flüchtigen Augenblicks. Möglich, dass Broccardo sich in diesem Bild als idealer liebender Humanist darstellen wollte, um sein Andenken zu sichern oder seiner sozialen Gruppe ein Bild seiner Seele zu hinterlassen.

Diskussion

Das Broccardo-Porträt hat über die Jahrzehnte viele Fragen aufgeworfen und zu teils kontroversen Diskussionen in der Kunstgeschichte geführt. Autorschaft und Zuschreibung waren lange nicht endgültig geklärt: Obwohl das Gemälde heute allgemein Giorgione zugeschrieben wird, gab es immer wieder Zweifel, ob es tatsächlich von der Hand des Meisters ist. Stilistische Ungereimtheiten – etwa die etwas grobe Ausführung mancher Partien (z.B. des linken Ohres oder der Nase) – ließen Autoren wie Crowe/Cavalcaselle im 19. Jahrhundert und auch den Kunsthistoriker Giovanni Morelli vermuten, es könne sich um ein Werk eines Nachfolgers handeln. Namen wie Palma il Vecchio oder Bernardino Licinio (beides venezianische Maler der Folgegeneration) wurden in frühen Inventaren mit dem Bild in Verbindung gebracht. Heute tendiert die Forschung aber dazu, in der etwas abweichenden Malweise eher die durch Restaurierungen und Abnutzung bedingten Veränderungen zu sehen – die schlechte Erhaltung des Bildes erschwert eine sichere Stilbeurteilung. Zudem wird berücksichtigt, dass Giorgione möglicherweise in Zusammenarbeit mit anderen tätig war oder dass seine Maniera nicht einheitlich ausfällt, da so wenige Werke von ihm erhalten sind. Konsens besteht jedenfalls darüber, dass das Bild qualitativ in die oberste Kategorie der venezianischen Porträtkunst um 1500 gehört, und dass Giorgiones Urheberschaft wahrscheinlich ist, auch wenn absolute Gewissheit fehlt.

Noch lebhafter ist die Debatte um die Identität und Deutung der dargestellten Person. Hier stehen sich vor allem zwei Hauptthesen gegenüber: Die eine sieht in ihm den Dichter Antonio Broccardo, gestützt durch die (fragmentarische) Inschrift und die poetisch-erotische Symbolik. Die andere bezweifelt dies aus chronologischen Gründen (Broccardo wäre zu jung gewesen) und sucht Alternativen. Vorschläge reichten von Mitgliedern der Familie Capello (wegen des „V“ und des Hut-Emblems) bis hin zur kühnen Idee, es handle sich um ein Selbstbildnis Giorgiones in verklausulierter Form. Letztere Hypothese wurde u.a. vom Kunsthistoriker Justus Justi Anfang des 20. Jahrhunderts ins Spiel gebracht, der meinte, in einigen Zügen eine Ähnlichkeit mit dem überlieferten Aussehen Giorgiones zu erkennen. Allerdings fand diese Idee wenig Resonanz, da die Signaturhinweise doch stark auf Broccardo deuten. Die Capello-Hypothese wurde von der ungarischen Kunsthistorikerin Julia Mádl (und früher schon von R. Auner 1958) diskutiert, da ein Vettor Capello in den gleichen Jahren lebte und die Cappello-Familie tatsächlich einen Hut im Wappen führte. Dennoch fehlen stichhaltige Belege – insbesondere erklärt diese These nicht die Inschrift „BROKARDVS“. Insgesamt bleibt die Identität ungelöst: Keine der vorgeschlagenen Personen kann alle Befunde erfüllen. Dieser Umstand trägt maßgeblich zur Aura des Rätselhaften bei, die das Bild umgibt.

In der ikonografischen Interpretation sind sich Forscher weitgehend einig, dass Liebe/Sehnsucht und Tugend zentrale Themen sind, doch im Detail divergieren die Meinungen. Einige Autoren (etwa Z. Zischka 1977 und T. Pignatti) betonen die Liebessymbolik – insbesondere die Liebesknoten – und sehen den Dargestellten als Liebenden in einem petrarkistischen Sinn, der vielleicht an eine reale Geliebte oder an ein Idealbild von Schönheit denkt. Andere (z.B. David Rosand) fragen, ob die Melancholie eher allgemeiner zu verstehen sei, als Ausdruck eines neuen humanistischen Selbstgefühls, bei dem der junge Mann über sein eigenes Innenleben reflektiert. Die Museumsbeschreibung in Budapest verweist darauf, dass manche sogar eine religiöse Verzückung in Betracht ziehen – etwa die Idee, der Porträtierte könne einen spirituellen Schmerz (bußfertige Reue o.Ä.) empfinden. Diese Vielfalt an Deutungen zeigt, wie außergewöhnlich das Bild für seine Zeit war: Es lässt dem Betrachter Raum für Projektionen, statt eine eindeutige Botschaft aufzudrängen. Jeder “interpretiert die Stimmung nach seiner eigenen Neigung”, wie Axel Vécsey schreibt. Genau hierin liegt ein großer kunsthistorischer Wert des Porträts: Es markiert einen Wandel vom geschlossenen Bedeutungsgehalt mittelalterlicher Porträts (die oft klar definierte Funktionen hatten – z.B. Stifterbild, Memoria-Bild) hin zum offenen Kunstbild der Neuzeit, das Ambiguität zulässt und sogar forciert.

Auch im Rahmen von Hans Beltings Bildanthropologie lässt sich das Porträt diskutieren. Belting betont das Porträt als Ort der Begegnung zwischen Betrachter und Dargestelltem, oft vermittelt durch den Blickkontakt (Beltings Begriff des „Blickwechsels“). Hier allerdings verweigert der junge Mann den Blickkontakt, was einen ungewöhnlichen Einbahn-Blick schafft: Wir schauen ihn an, aber er schaut nicht zurück. Dieses stilistische Mittel könnte als Absage an die sonst übliche Interaktion verstanden werden – der Dargestellte entzieht sich bewusst der sozialen Rolle des Porträtierten, um ganz bei sich zu sein. Belting würde vielleicht sagen, das Bild versetzt den realen Menschen in einen anderen Zustand: Der Körper des Abwesenden (denn das Porträt ersetzt ja einen nicht anwesenden Menschen) wird in eine fiktionale, emotionale Wirklichkeit übertragen. Somit wird der Porträtierte weniger als sozial greifbare Person, sondern als Träger eines inneren Bildes dargestellt – in diesem Fall des Bildes der Melancholie oder des Liebenden. Das Porträt wird zum Medium, durch das ein affektiver Zustand tradiert wird, und der Betrachter muss diesen durch Empathie nachempfinden. Diese qualitativ neue Erfahrung – ein Porträt, das eher poetisch als repräsentativ wirkt – war ein wichtiger Schritt in der Porträtkunst, der dank Giorgiones Einfluss weiterverfolgt wurde.

Literatur- und Quellenlage

Die Forschung zu Giorgiones Porträt eines jungen Mannes ist reichhaltig, aber auch geprägt von vielen offenen Fragen. Quellen aus der Entstehungszeit sind spärlich: Weder Giorgiones Zeitgenosse Vasari noch andere frühe Schriftsteller erwähnen explizit dieses Bild. Erste sichere Nachweise stammen aus Sammlungsinventaren des 19. Jahrhunderts (Esterházy-Sammlung, Budapest), was die lückenlose Provenienz erst spät einsetzt. Gerade deshalb war die identifizierende Forschung stark auf Stil- und Symbolanalysen angewiesen.

In der kunsthistorischen Literatur wird das Gemälde häufig diskutiert. Frühe Autoren wie Corrado Ricci und Lionello Venturi (Anfang 20. Jh.) beschäftigten sich mit der Attribution – Venturi notierte die Inschrift „#ALFONSVS# ANTONIVS BROCKARDVS MAR…“ und zweifelte an Giorgiones Autorschaft. Spätere Standardwerke über Giorgione (z.B. by Fernandez in 1940, Pignatti 1969, Sherman 1981) erkannten die Qualität des Bildes an und hielten an Giorgione fest, ohne die Rätsel ganz lösen zu können. Alessandra Fregolent (2001) stellte in ihrem Giorgione-Buch die These auf, das Porträt zeige den Dichter Antonio Broccardo, wobei sie auf die Inschrift und die “hieroglyphischen” Embleme verwies. Diese Identifikation wurde im Katalog der Giorgione-Ausstellung 2004 (kuratiert von Enrico Maria Dal Pozzolo und Sylvia Ferino-Pagden) kritisch hinterfragt – dort wies Gábor Koos (2004) darauf hin, dass das Alter Broccardos nicht mit der Datierung harmoniert, und referierte alternative Namensvorschläge.

Ein wichtiger Beitrag zur Deutung stammt von Theresa Gatarski, die 2006 in “Bildnisse des Begehrens. Das lyrische Männerporträt…” genau dieses und verwandte Porträts (etwa Tizians “Junger Mann mit Federbarett”) im Kontext des venezianischen Humanismus analysierte. Sie arbeitet die Liebessymbolik (insb. die Liebesknoten) detailliert heraus und verortet das Broccardo-Porträt als visuelles Pendant zur zeitgenössischen Liebeslyrik (Petrarkismus). Gatarski stützt sich dabei u.a. auf ältere Studien von Zischka (1977), der die Verwendung von Liebesknoten in Kunst und Mode des 16. Jh. dokumentierte.

Die Museumsforschung in Budapest, insbesondere durch Kurator Axel Vécsey, hat das Bild ebenfalls eingehend betreut. Im Sammlungskatalog von 2009 und auf Google Arts & Culture veröffentlichte Vécsey einen Kommentar, der die verschlungenen Interpretationsmöglichkeiten betont und die Wirkung auf den Betrachter schildert. Hier wird hervorgehoben, dass das Porträt das „Rätselhafteste“ der Sammlung sei und jede objektive Auflösung sich entziehe. Diese Einschätzung teilt die Mehrheit der heutigen Forscher: Trotz vieler Indizien bleibt das Broccardo-Porträt ein “enigmatic masterpiece” – ein Meisterwerk voller Geheimnisse.

Die Quellenlage setzt sich zusammen aus wissenschaftlichen Publikationen und Museumsressourcen. Neben genannten Monographien und Aufsätzen sind die Wikipedia-Artikel (bes. der italienische) hilfreich, da sie aktuelle Erkenntnisse und Bibliographie zusammenfassen. Das Museum of Fine Arts Budapest hat online und in Katalogen grundlegende Daten und Beobachtungen publiziert, z.B. die technischen Befunde zum Hintergrund und die Diskussion früher Zuschreibungen. Wichtige Primärquellen sind die Notizen von Renaissance-Kunstkennern wie Marcantonio Michiel, der allerdings dieses Bild nicht erwähnt, sowie die Tagebücher von Giovanni Morelli (der 1860er Jahre), der das Bild in Budapest sah und beschrieb. Morellis Notizen – hier zitiert in einer neueren Studie – liefern Details etwa zur ursprünglichen Landschaft im Hintergrund und zu Beobachtungen am Malstil.

Zusammenfassend zeichnet die Literatur-/Quellenlage ein Bild eines vielschichtigen Forschungsobjekts: Das Broccardo-Porträt wurde von der kunsthistorischen Forschung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet (ikonografisch, stilkritisch, sozialhistorisch, psychologisch), ohne dass alle Fragen endgültig geklärt werden konnten. Es bleibt Gegenstand laufender Diskussion – was letztlich seiner Faszination nur zuträglich ist. Wie Vécsey formuliert: Eine objektive Lösung gibt es nicht; jeder Betrachter wird von neuem gebannt und sucht seine eigene Interpretation. Dies macht Giorgiones Porträt eines jungen Mannes zu einem der spannendsten und meistinterpretierten Renaissance-Porträts überhaupt.

Quellen: Museum of Fine Arts Budapest (Katalog und Online); Wikipedia (dt./engl./ital.); Fregolent 2001; Koos 2004 (in: Giorgione Ausst.-Kat.); Gatarski 2006 (Bildnisse des Begehrens); Zischka 1977; Axel Vécsey 2009; Belting 2001 (Bild-Anthropologie); Auner 1958; Venturi 1900.